Tausche Lernhilfe gegen Wohnraum

Das Pilotprojekt StudyFriends, eines von zahlreichen Bildungsprojekten in Gröpelingen, ist so einfach wie genial: Studierende erhalten kostenfreien Wohnraum wenn sie stundenweise und in Ergänzung zu den regulären Lehrkräften Kinder im Unterricht unterstützen. Von diesem Tauschgeschäft profitieren nicht nur die Studierenden und Schüler*innen, sondern auch die Schule und der Stadtteil. Wir durften einen Tag an der Neuen Oberschule Gröpelingen hospitieren und StudyFriend Andrés Sotomayor über die Schulter schauen.

Text: Nuria Fischer, Fotos. Shanice Allerheiligen

Pünktlich um 8.30 stehe ich auf dem Pausenhof der Neuen Oberschule Gröpelingen (NOG). Seit Oktober 2021 läuft hier das Pilotprojekt StudyFriends. Vier Student*innen wird bezahlter Wohnraum im Austausch für Unterstützung beim Lernen zur Verfügung gestellt. Heute darf ich StudyFriend Andrés Sotomayor bei einem normalen Arbeitstag begleiten. Gemeinsam mit seinem Kollegen Sargis Poghosyan unterstützt er mit 20 Stunden im Monat den fünften Jahrgang. Zwei weitere StudyFriends helfen im sechsten Jahrgang aus. 

Bevor ich nach 15 Jahren das erste Mal wieder einen Klassenraum betrete, bin ich vorher noch mit der Schulleiterin Martina Semmler verabredet. Nach dem letzten Klingeln ist der Pausenhof leergefegt - und ich weiß nicht wohin. Das Gebäude ist strahlend weiß, sehr modern. In den vergangenen Jahren wurde es aus Mitteln der Senatorin für Kinder und Bildung für 19,5 Mio € saniert und mit einem Anbau ergänzt. Das sieht man.


Lernen für die Zukunft in einer Gemeinschaft der Vielfalt

Von hinten höre ich, wie sich schnelle Schritte mit wippendem Ranzen nähern, meine Chance. Eine Schülerin erklärt mir, wo ich das Lehrer*innenzimmer finde. Ein schönes Treppenhaus und offene helle Flure laden ein, sich umzuschauen. Alle Türen sind aus Glas, um sehen zu können, was dahinter passiert. Auf ihnen steht das Motto der Schule: »Lernen für die Zukunft in einer Gemeinschaft der Vielfalt.«
 

Hinter einer dieser gläsernen Türen gestikuliert eine freudig strahlende Frau, wie ich ins Lehrer*innenzimmer gelange. Noch ehe ich sitze, bringt mir ein netter Kollege einen Kaffee und schon sind wir mitten im Gespräch.
 
»Ich bin ja sowieso für solche Sachen immer schnell zu haben. Alles, was den Kindern guttut, hole ich gerne in die Schule rein.« Martina Semmler ist seit drei Jahren Schulleiterin in der Oberschule Gröpelingen. Die Idee, jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, mit Kindern zu arbeiten, ohne gleich die Verantwortung als Lehrkraft zu übernehmen, fand sie besonders reizvoll und überzeugend.

Gemeinsam für den Stadtteil

Der ursprüngliche Impuls für das Projekt kam aus der Stadtentwicklung. Der Wunsch: mehr Studierende nach Gröpelingen holen. Denn Studierende tragen oftmals zu einer Belebung des Stadtteils bei, was wiederum zu mehr Attraktivität führt. Martin Karsten hatte von ähnlichen Projekten in Bremerhaven (Bildungsbuddy), Duisburg (Tausche Bildung für Wohnen e.V.) und Gelsenkirchen (Tausche Bildung) gehört. Davon inspiriert nahm er Kontakt zu Martina Semmler auf.  

Die gesamte Organisation rund um Homepage, Bewerbungsprozesse und allem was dazugehört, übernahmen Christiane Gartner und Frauke Kötter von Kultur vor Ort e.V. Der gemeinnützige Verein wurde vor über 20 Jahren von Bewohner*innen Gröperlingens gegründet und hat im Stadtteil schon zahlreiche Bildungsprojekte initiiert und begleitet.

weitere Bildungsprojekte von Kultur vor Ort

Die Deutsche KindergeldStiftung konnte schließlich als Geldgeberin für das Projekt begeistert werden und übernimmt in den kommenden fünf Jahren die Mieten für die Wohnungen der Studierenden.

Während mir Martina Semmler von der Gründungsphase erzählt, strahlen ihre Augen. »Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen und besprechen die nächsten Schritte. Tatsächlich haben wir gleich eine Videokonferenz zusammen. Eine Studentin um, weswegen wir eine neue Ausschreibung machen.«

Die Schulleiterin führt mich noch schnell über den Pausenhof durch mehrere Flure zum Klassenraum der 5D. Dabei unterhalten wir uns über die Architektur und die Umbauten in der Schule. Ein Schulprinzip der NOG lautet Transparenz, was im gesamten Gebäude sichtbar und spürbar ist. 


Mathe zum Anfassen statt Frontalunterricht

Nach einigen Treppen und ein paar Mal abbiegen, sind wir am Klassenraum der 5D angekommen. Kein Anklopfen und Warten bis man reingelassen wird. Die Klassentür steht sperrangelweit offen. Vor dem Raum sind die Straßenschuhe der Schüler*innen und Pädagog*innen bunt aufgereiht. Lautes Stimmenwirrwarr. Als ich eintrete, werde ich kaum beachtet. 

Ich zähle 19 Schüler*innen und sage und schreibe sechs Erwachsene. Beim Vorbeigehen erklärt mir Frau Geiger, eine der zwei Klassenlehrer*innen, der mein erstaunter Blick wohl nicht entgangen ist, »Das ist nicht normal. Heute aber nötig, da wir Stationsarbeit machen.« Der heutige Unterricht wird von der Lehramtsstudentin geleitet. Außerdem sind die zwei Klassenlehrer*innen anwesend. Zwei Kinder mit zusätzlichem Förderbedarf werden von je eine*r Pädagog*in unterstützt und freitags kommt StudyFriend Andrés hinzu. So kommt man schnell auf sechs Erwachsene. Je mehr Pädagogische Fachkräfte anwesend sind, desto besser kann auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder eingegangen werden.
 

Ich setze mich nach hinten in eine Ecke und lasse den Klassenraum und das wilde Geschehen auf mich wirken. An mehreren Stationen werden auf unterschiedliche Art und Weise geometrische Figuren erarbeitet. Mit Knetmasse und Zahnstochern baut eine Schülerin neben mir einen Zylinder und rennt damit zur Lehrerin, um ihn stolz zu präsentieren. Zwei Tische weiter wird gerade ein Memory-Spiel ausgeschnitten, um im nächsten Schritt abgebildete geometrische Figuren mit den entsprechenden Bezeichnungen zusammenzubringen.

Was auf den ersten Blick wie ein großes Chaos wirkt, ist auf den Zweiten gut durchdacht. Als Kind hätte ich so eine Art von Matheunterricht geliebt. Mathe mit den Händen greifbar machen, genau mein Ding.

Bei einem Blick unter die Tische muss ich schmunzeln. Adiletten in verschiedensten Farben und Ausführungen zieren die Füße der Kinder. An der Tafel stehen die Klassenregeln in gegenderter Form. Liebevolle Girlanden mit den Geburtstagen der Kinder dekorieren die Wände. Keine u-förmige Tischordnung, kein Frontalunterricht, sondern fluide Tischinseln, die zu der Klassendynamik passen. Wow, ist in den letzten Jahren viel passiert!

StudyFriends erweitern Perspektiven der Lehrkräfte

Im ruhigen Nebenzimmer erzählt mir die Klassenlehrerin Christina Geiger wie es so ist mit den StudyFriends. »Schüler*innen können ganz genau zwischen Lehrkräften und den StudyFriends differenzieren. Sie sind nicht nur eine zusätzliche Hilfestellung, sondern auch Vorbilder, weil sie viel näher an den Kindern dran sind.« 

Die StudyFriends Andrés Sotomayor und Sargis Poghosyan, die in der 5D aushelfen, haben beide eine internationale Biografie und erzählen auch ganz offen darüber. Sie sind jünger als die Lehrer*innen und Eltern der Kinder. Durch das gemeinsame Wohnen in Gröpelingen entsteht eine zusätzliche Gemeinsamkeit und viele Kinder können sich mit den StudyFriends identifizieren. »Für die Kinder ist es ein Traum zu sehen, dass sie es schaffen können. Andrés hat ihnen erzählt, dass es ganz schön hart war, dass seine Mutter ihn beim Lernen gedrillt hat. Aber dass es trotzdem was bringt«, erzählt Christina Geiger über die Vorbildfunktion der StudyFriends. 

Durch den Austausch der StudyFriends mit den Lehrer*innen entstehen auch im Kollegium neue Sichtweisen auf die Kinder. Die StudyFriends schauen mit einer anderen, ergänzenden Perspektive auf die Kinder, haben einen ganz anderen Zugang zu ihnen. Die Lehrer*innen bekommen so viel mehr und anderes mit. Dadurch können die vielfältigen Potenziale der Kinder in den Fokus gebracht werden.

Auffällig ist, dass von den vier StudyFriends niemand auf Lehramt studiert. Die Schule war erst kritisch, aber mittlerweile wird es sogar als Vorteil gesehen, da sich die Studierenden dadurch noch mehr von den Lehrkräften unterscheiden und jede*r seine*ihre persönlichen Kenntnisse mit in den Schulalltag bringt. »Das Projekt ist für fünf Jahre gesichert. Das ist wichtig, denn nach einem halben Jahr kann man noch nicht sagen, ob und in welchen Bereichen es erfolgreich ist. Das wird die Zeit zeigen. Es hängt viel mit den StudyFriends als Personen zusammen, weshalb wir uns eine lange Zusammenarbeit wünschen.«

How to be a StudyFriend

Während der gesamten Unterrichtsstunde flitzt Andrés von einem Tisch zum anderen. Ich schaffe es kaum, ihn zwischendurch zum Projekt zu befragen. Es ist sehr beeindruckend, wie er den Überblick behält, auf jedes Kind individuell und ruhig eingeht und trotzdem den Absprung zum nächsten schafft. »Am Anfang habe ich versucht schnell im Takt zu springen, nebenbei Dinge zu beantworten und für alle da zu sein. Mittlerweile habe ich gemerkt, dass es für die Kinder, mich und meine Gesundheit besser ist, mich auf ein Kind zu konzentrieren und dann zum nächsten zu gehen.«
 

»Kinder merken schnell, wenn ihnen die Aufmerksamkeit nicht komplett gewidmet wird und das wirkt sich auch auf den Lernerfolg aus. Dann passen sie weniger auf oder haben das Gefühl, dass man sich nicht für sie interessiert.«

Andrés studiert an der Uni Bremen Kulturwissenschaften und Erziehungs- und Bildungswissenschaften im Nebenfach. Das ist auch die Richtung, die er zukünftig verfolgen möchte. Der Student kommt ursprünglich aus Ecuador und ist 2004 mit seiner Familie nach Buchholz gezogen. Als er an der Uni Bremen angenommen wurde, war der Wunsch groß, so schnell wie möglich nach Bremen zu ziehen. »Ich habe nur die Schlagzeile “Umsonst wohnen und in der Schule arbeiten” gelesen. Mit den wenigen Stunden haben sie mich direkt geködert und ich habe mich beworben.«

 

Gröpelingen besser als sein Ruf

Die Wohnungen der StudyFriends befinden sich in sanierten Backsteinhäusern einer ehemaligen Arbeitersiedlung ganz in der Nähe der Oberschule. »Meine Freunde gucken immer ganz lustig, wenn ich erzähle, dass ich in Gröpelingen wohne. Viele wohnen im Viertel oder der Neustadt in einem ganz anderen Setting als hier. Ich habe da eine ganz andere Sicht darauf. Ich merke einfach wie schön Gröpelingen ist. Es ist super grün, es gibt viele Parks, viele Spielplätze. Außerdem ist das kulinarische Angebot in Gröpelingen hervorragend und es hat meinen Horizont sehr erweitert. Es ist was ganz Besonderes, wie viele Kulturen auf einem Fleck zusammen leben. Ich habe das Gefühl, dass ich als Person mit meinen Erfahrungen etwas zu Gröpelingen beitragen kann«, fasst Andrés seine Gefühle zu seinem neuen Zuhause zusammen.

Gröpelingen ist einer der Stadtteile über den viele Menschen negativ sprechen ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Ich finde: Er hat viel zu bieten. Seit einigen Jahren  fließen viele öffentliche und private Gelder nach Gröpelingen mit denen nach kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lösungsansätzen gesucht und tolle Projekte wie StudyFriends umgesetzt werden können. 

 

In Potenzialen denken

Rrrring Rrrring - Zeit für die Pause. Die Schüler*innen sind schon ganz aufgeregt, was Andrés heute in petto hat. Sie freuen sich sehr über die Pausenangebote der StudyFriends: egal ob Keyboard spielen, Schach, Dosenwerfen oder im Clubraum chillen. Heute wird der Clubraum geöffnet, weshalb alle aus dem Häuschen sind und zwei Räume weiter sprinten.

Im Clubraum stehen ein Billardtisch, mehrere Sofas und Regale voller Brettspiele. Einige Kinder chillen auf den Sofas, eine Gruppe fängt an Monopoly aufzubauen, während ein Schüler die Schachfiguren zusammen sucht, um gleich gegen Andrés zu spielen. 
 

Andauernd suchen die Kinder seine Nähe und Aufmerksamkeit. »Anfangs habe ich den Fehler gemacht, dass ich ihr Freund sein wollte. Dadurch wurde ich nicht als Autorität angenommen. Es ist ein schmaler Grat, aber da muss ich mich als Mensch auch selber schützen. Wenn ein Kind in einem Konflikt ist, dann ist Nähe besser. Wenn ich aus meinem persönlichen Leben erzähle, merken sie: Hey, ich weiß wie das als Mensch so ist. Beim Lernen ist eine gewisse Distanz förderlicher.«

Noch ehe wir uns versehen, ist die Pause und auch meine Stippvisite an der NOG vorbei. Die Kinder räumen schnell auf und gehen in den nächsten Unterricht. Andrés und ich bleiben noch ein Weilchen im Raum und quatschen. Ich bin beeindruckt von dem Projekt und den Akteur*innen im Hintergrund. Mit vollem Einsatz und viel Herzblut sehen sie das Potenzial in jedem einzelnen Kind und geben alles dafür ihnen den Raum und die Zeit zu geben dieses zu entfalten. 

Als Andrés und ich aus dem Raum kommen, sitzen zwei Schüler*innen davor und fragen: »Und seid ihr jetzt verliebt?«

Ja, einige Dinge sind eben noch genau wie vor 15 Jahren.
 

Wenn auch du gerne ein StudyFriend werden möchtest oder wen kennst für den*die das Projekt genau das Richtige wäre, findet ihr unter folgendem Link alle Infos zum Projekt und zur Bewerbung.

Mehr Informationen zu StudyFriends


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