Anschauen statt wegboxen

Wer im Schulunterricht Angst vor der großen Pause hat, kann sich nur schwer auf den Lernstoff konzentrieren. Streit auf dem Schulhof, Beleidigungen auf dem Weg ins Klassenzimmer, Hänseleien nach einer falschen Antwort – all das ist durchaus Alltag für zahlreiche Schüler*innen. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung geben knapp 30 Prozent Grundschüler*innen an, regelmäßig verspottet, absichtlich gehauen oder ausgegrenzt zu werden. Bremer Grundschulen setzen sich daher aktiv für mehr Respekt und Wertschätzung ein. Wir haben uns das im Stadtteil Huchting einmal angeschaut.

Text: Sandra Lachmann, Fotos: Leon Bucholz

»Stopp, ich möchte das nicht.« Mira guckt Josef direkt in die Augen. Der Erstklässler grinst und piekst sie zum wiederholten Mal mit dem Finger in den Bauch. Mira bleibt deutlich: »Josef, ich gebe dir jetzt noch eine letzte Chance. Ansonsten sag ich es einem Erwachsenen.« Pieks. Dieses Mal geht Josefs Finger zu Miras linkem Ohr. Die hat nun genug. Das Mädchen dreht sich um und stapft in die Richtung von Schulleiterin Silke Zimmermann. Dort schildert sie in klaren Worten, was passiert ist und beendet ihre Ausführungen mit einem wichtigen Satz: »Ich brauche Hilfe.«

Applaus von allen Seiten. »Das hat Mira super gemacht, oder?« ruft Oliver Henneke laut. Die Kinder im Bewegungsraum der Grundschule Sodenmatt nicken, lachen und applaudieren weiter. Josef streift sich währenddessen die große blaue Schaumstoffhand vom Unterarm. Übung erfolgreich absolviert.

 

Raum für sozial-emotionales Lernen 

Es ist die vorletzte Übung des viertägigen !Respect-Sozialtrainings, das die 13 Schülerinnen und Schüler der Grundschule Sodenmatt gerade absolvieren. Jeden Tag haben sie gemeinsam mit Oliver je 90 Minuten auf spielerische Weise gelernt, wie Konflikte vermieden und geschlichtet werden können.

 »Verhaltenscoaching« nennt Oliver das, was im von ihm gegründeten !Respect-Projekt passiert. »Meine Schwester ist Lehrerin und ich habe unter anderem über sie Einblicke erhalten, wie der Alltag an Schulen aussieht. In dem bleibt wenig Zeit und Raum für sozial-emotionales Lernen, die Lehrkräfte haben dafür kaum Kapazitäten.«
 

»Ein gutes Lernklima ist allerdings unerlässlich für einen erfolgreichen Bildungsprozess. Nur Kinder, die sich in ihrer Umgebung angenommen und wohl fühlen, können motiviert und mit Freude lernen. Daher ist sozial-emotionales Lernen an unseren Grundschulen total wichtig.«

Oliver Henneke

 

Von einem ist Oliver überzeugt und seine mehrjährigen Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen bestätigen es: wertschätzendes und tolerantes Sozialverhalten lässt sich nicht verbal-kognitiv vermitteln. »Nach drei Minuten würden die Kinder komplett abschalten. Vorausgesetzt, sie können überhaupt verstehen, wovon gesprochen wird. Denn heute sind Gruppen in Grundschulen inzwischen oft wahnsinnig heterogen und es gibt immer wieder Kinder, die noch nicht gut Deutsch verstehen und sprechen.«

Erschrocken, nachdenklich, bockig, gelangweilt, überrascht - es folgt eine Reihe weiterer Stimmungen, die über den Körper zum Ausdruck gebracht werden sollen. Überhaupt geht es an diesem Tag viel um den Körper und um Möglichkeiten, ihn zur Kommunikation und auch zum Schutz einzusetzen. 

Im Begrüßungskreis am Morgen beispielsweise, bei dem sich immer zwei Kinder begrüßen sollen. »Ihr geht bitte immer auf ein anderes Kind zu, macht einen Ellenbogen-Check, lächelt euer Gegenüber an und begrüßt ihn oder sie mit Namen«, erklärt Oliver die Übung.  Eine Übung, mit der die Schüler*innen besser für Begegnungen auf dem Schulflur gewappnet sein sollen. Bei der sie erleben sollen, wie es sich anfühlt, anderen direkt in die Augen zu schauen.
 

»Hallo Lorena.« Ellenbogen-Check. »Hallo Josef. Es sind teilweise zaghafte Versuche, teilweise übermütige. Und es ist spürbar, dass es einigen Jungen unangenehm ist, einem Mädchen direkt ins Gesicht zu schauen. Oliver lockert die Stimmung, macht es noch einmal vor. Bei der nächsten Runde dann sollen sich die Kinder auch die Augenfarbe des anderen Kindes merken. Es klappt nicht immer, aber häufig.

 

peer group education mit nachhaltiger Wirkung

»Was in unseren Workshops passiert, ist peer group education«, sagt Oliver. »Wir verankern Erfahrungen und Veränderungen in einzelnen Gruppen, die dann Vorbild für andere werden. Wenn wir heute Erstklässlern das Werkzeug für wertschätzendes Miteinander an die Hand geben, hat das Auswirkungen auf die gesamte Schulatmosphäre. Denn diese Erstklässler werden Zweit-, Dritt- und später Viertklässler. Andere, kleinere Kinder werden sich ihr Verhalten abgucken, sie imitieren. Das Projekt hat also nicht nur Vorteile für diejenigen, die aktiv daran teilnehmen, sondern auch für die Schulgemeinschaft insgesamt.«
 

Die wohl wichtigste Übung an diesem Vormittag: das Abgrenzen. Schon an den ersten beiden Tagen haben die Huchtinger Schülerinnen und Schüler geübt,  »Stop« zu sagen. Ein Aufsteller, der mitten im Raum steht, fasst mit comicartigen Zeichnungen zusammen, was Oliver jetzt noch einmal eindrucksvoll und überspitzt vormacht.  »Wisst ihr noch, was wichtig ist, wenn ihr jemandem sagt, dass ihr etwas nicht wollt?« Amela meldet sich. »In die Augen schauen.« Oliver nickt. »Ganz genau. Der Laserblick. Und natürlich die Skateboardhaltung.« Der Trainer stellt seinen rechten Fuß etwas nach vor. Dann richtet er seinen Oberkörper gerade und selbstbewusst nach oben, streckt beide Arme nach vor, klappt die Handinnenflächen nach oben. »Reißverschluss, also gerade stehen, und dann die Stopphände ausstrecken. Seht ihr?« Jetzt sind die Kinder dran: Laserblick, Skateboard, Reißverschluss, Stopphände. 

»Und was kann man dem anderen nun sagen?“, fragt Oliver die Kinder. »Halt stopp, ich möchte das nicht«, so der erste Vorschlag. Oliver nickt. Und dann rufen alle laut im Chor: »HALT! STOP! ICH MÖCHTE DAS NICHT!« Gefolgt vom zweiten Vorschlag: »LASS MICH BITTE IN RUHE.« Energie liegt in der Luft. Die Erstklässler sind plötzlich gar nicht mehr so klein.

Finanzielle Förderung nötig

Die Spiele und Übungen, bei denen die Kinder respektvolles Miteinander und deeskalierendes Verhalten in Konfliktsituationen trainieren, sind der Hauptbestandteil des !Respect-Sozialtraining. Ergänzt wird es mit Fortbildungen für das Kollegium und einem Elternabend. Ein Programmpaket, das Geld kostet: knapp 3.000 Euro für den Durchlauf mit Erstklässlern. Geld, das selten im Haushalt der jeweiligen Schule vorhanden ist. 
 

Erwin Bartsch, Vorstand des Bremer Fonds e.V. und Silke Zimmermann, Schulleiterin der Grundschule Sodenmatt

Die Grundschule Sodenmatt ist daher froh, dass der Bremer Fonds e.V. das Training ermöglicht. Er unterstützt seit vielen Jahren Schulprojekte, die neben ganzheitlicher Bildung auch die Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen fördern. Schon zum zweiten Mal sind in der Grundschule Sodenmatt dank des Bremer Fonds finanzielle Mittel vorhanden, um das Präventionsprojekt umzusetzen.

Der Vormittag neigt sich dem Ende. Auf dem Boden liegen Reifen aus Holz. Ihre Innenräume sind der Raum, auf den sich alle 13 Schülerinnen und Schüler verteilen sollen, wenn Oliver das Signal dazu gibt. Von Mal zu Mal nimmt er einen Reifen weg, immer enger stehen die Kinder beieinander. Schließlich ist nur noch ein Reifen übrig. Oliver hört auf zu trommeln und damit ist klar: Jetzt müssen alle zusammenrücken, sich gegenseitig Halt geben und niemand darf herausgedrängt werden. Nach und nach versammeln sich die Erstklässler im und am Reifen. 


Und am Ende stehen alle darin. 
 


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