»Was mich baulich umgibt, prägt mich«

 

Denkmäler, Wahrzeichen und Sehenswürdigkeiten geben Städten eine unverwechselbare Gestalt. Im Alltag spielen sie für die Menschen, die in der jeweiligen Stadt wohnen, jedoch häufig eine untergeordnete Rolle. Warum ist das so - und sollte sich das ändern? Wir haben bei Ursula Schirmer von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz nachgefragt.

Interview: Jule Schlicht, Text: Sandra Lachmann, Grafik: Claudia Nesemann

 

Frau Schirmer, warum haben Sehenswürdigkeiten auf Tagesgäste und Urlaubende häufig eine höhere Anziehungskraft als auf die Menschen vor Ort?

Eigentlich sollte es so sein, dass die Menschen, die in einer Stadt wohnen, diese auch als Teil ihres eigenen Lebens und ihrer eigenen Geschichte verstehen und entsprechend wertschätzen. Das ist jedoch tatsächlich oft nicht der Fall, sondern es sind die Besucher*innen mit der entsprechenden Zeit und Muße, die dann darauf aufmerksam machen. 

Das hat sehr viel damit zu tun, dass Wissensvermittlung oft nicht intensiv genug betrieben wird. Bürger*innen müssen Angebote dafür erhalten, die Vorzeigeobjekte ihrer Stadt zu erleben und mehr über sie zu erfahren. Das hat man vielerorts viel zu lange vernachlässigt. Nach dem Motto »Die Leute wohnen hier, die wissen das schon.« Eltern sollten ihren Kindern Fragen zur eigenen Stadt beantworten können. Wenn sie das aber nicht können, weil ihnen das niemand erklärt hat, dann wird dieses Wissen auch nicht vermittelt und tradiert. 

»Man sieht nur, was man weiß« heißt es bei Gothe zurecht. Egal, ob es nun Spezial-Führungen für Alteingesessene sind, Initiativen von Volkshochschulen, Projekte von Schulen oder für Schulen… all das sind Möglichkeiten, um Wissen und Verständnis zu schaffen. Und damit einhergehend auch einen gewissen Stolz, in einer Stadt mit Sehenswürdigkeiten und Geschichte wohnen und arbeiten zu können. 

 

Wie wichtig ist es, dass Denkmäler, Wahrzeichen, historische Gebäude und Ähnliches im Alltag zugänglich sind? 

Es ist immer das Optimum, wenn man touristische Highlights von innen erleben kann. Und noch besser ist es, wenn es dort auch Veranstaltungen gibt. Gerade Rathäuser leben davon, dass dort Preisverleihungen, Ehrungen und Ähnliches stattfinden. Ich bin ziemlich sicher, dass jeder, nachdem er in der Oberen Rathaushalle in Bremen eine Veranstaltung erlebt hat, eine ganz andere Sichtweise für diese gute Stube der Stadt hat, als vorher, als er nur hastig am Rathaus vorbeigelaufen ist.

 

Welche Rolle spielt der Tag des offenen Denkmals in diesem Zusammenhang?

Wir haben festgestellt, dass er in der Vermittlungsarbeit ein ganz wichtiger Termin ist. Es ist ein Tag, an dem Bürger*innen sich Zeit dafür nehmen, dort, wo sie normalerweise nur in Hektik vorbeirennen, einfach mal kostenlos reinzuschauen. Und darum geht es eben: mal hinter die Fassaden schauen zu können, um ein Bauwerk kennenzulernen. Etwas darüber erklärt zu bekommen und dann mit diesem Wissenszuwachs ein größeres Verständnis zu haben, das wieder weitergegeben werden kann. Der Tag des offenen Denkmals hat für diesen niedrigschwelligen Zugang zu Baukultur ganz viel beigetragen und tut das jedes Jahr wieder neu.

 

Wie kann man für Bewohner*innen, die schon lange in der Stadt wohnen, die Sehenswürdigkeiten spannender gestalten?

Es ist wichtig, positive Erlebnisse mit ihnen zu verbinden. Es kann der Kaffee morgens oder das Bierchen abends auf dem Rathausplatz sein. Oder eine Konzertreihe im Schlossgarten. Das schafft eine ganz andere, eine sehr positiv besetzte Wahrnehmung, die dann auch im Gedächtnis bleibt. Das ist was anderes, als wenn ich morgens in aller Eile an der Fassade vorbei rausche, weil ich dringend ins Büro muss oder den Bus verpasst habe. Dann ist das eher der Ort, an dem ich immer in Hektik bin. Durch positives Erleben entsteht eine ganz andere Verbundenheit. 

Und ich finde es auch wichtig, dass Zugang zur Geschichte einer Stadt für alle Schichten offen ist, also sehr preisgünstig oder sogar kostenlos. Eintrittsgelder sind immer eine Barriere. Da fragt man sich schon, ob man jetzt Geld ausgibt, um eine Stadtführung zu machen oder für etwas anderes.

 

Müssen nicht auch die Einwohner*innen aktiv etwas dafür tun, Sehenswürdigkeiten besser kennenzulernen? 

Natürlich. Sie müssten sich so wie Tourist*innen eigentlich immer mal die Muße für eine Stadtführung oder einer Sightseeing-Busfahrt nehmen. Es gibt ja sogar einführende Stadtführungen für Neubürger*innen oder für Alteingesessene, die an ungewöhnliche Orte gehen. Also man muss es von beiden Seiten sehen: Die Kommune muss etwas anbieten, um die Bürger*innen zu fesseln und die müssen es mit dem Selbstverständnis, Teil der Kommune zu sein, auch annehmen.
 

Welchen Vorteil hat es für eine Stadt, wenn ihre Bewohner*innen einen engen Bezug zu ihren Wahrzeichen haben?

Es geht zunächst natürlich darum, dass es Wissensspeicher sind, die für eine Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielt. Nur wer seine Wurzeln kennt, weiß, wie er die Zukunft gestalten kann oder muss. Es hat auch viel mit den sogenannten sekundären Faktoren für eine Stadt zu tun. Eine Stadt, in der sich die Leute wohlfühlen und mit der sie sich identifizieren, ist ein weicher Wirtschaftsfaktor.

»Wenn ich mich mit meiner Stadt identifiziere, übernehme ich auch Verantwortung für sie. Wenn ich mich mit Dingen beschäftige und sie als wichtig erkannt habe, dann ist es mir auch nicht mehr egal, ob sie kaputt- oder verlorengehen.«

 

Eine Stadt manifestiert sich eben in erster Linie baulich. Wenn ich in einer Stadt wohne, kann ich mich der Architektur, der bebauten Umwelt, nicht entziehen. Ob ich das will oder nicht. Was mich baulich umgibt - ob es Hochhäuser sind, ob ich mich klein und verloren fühle oder ob ich mich als Teil einer langen Tradition fühle - prägt mich. Das bewirkt nun mal die gebaute Umwelt. Diese kennenzulernen und sich dessen bewusst zu werden, dafür sind dann eben Vermittlungsangebote wichtig. Damit ich verstehe, warum es schon einen Unterschied macht, ob ich das alte Rathaus gegen einen Neubau austausche.

Ein Neubau wird schnell beliebig. Das Gebäude könnte überall als neues Gebäude stehen. Das hat ja leider die moderne Architektur so an sich, dass das in New York genauso gebaut wird wie in Abu Dhabi. Unsere Denkmäler dienen also auch der Identifikation. Es muss das Ziel bleiben, dass ich sofort anhand von Gebäuden, anhand der baulichen Manifestationen einer Stadt, sehe, wo ich mich befinde. Das ist ein ganz menschlicher Wunsch, dass man sich verorten kann und dass man sich dann auch entsprechend wohlfühlt. Also es hat mit Identifikation, Heimat und Identität zu tun.

 

Schauen wir doch mal auf eine von Bremens wichtigsten Sehenswürdigkeiten, auf die Böttcherstraße. Sie waren schon einmal dort. Wie haben sie sie erlebt?

Wenn ich mich recht erinnere, war das vormittags und erholsam ruhig. Da gab es kleine Abzweigungen und eine Vielzahl von Geschäften, wo man unheimlich viel stöbern konnte. Was natürlich auch Zeit brauchte. Da ist wieder das Thema Muße, das ich eingangs schon ansprach. Wenn ich lediglich den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten suche und die Böttcherstraße nur als Abkürzung passiere, dann nehme ich das natürlich nicht so wahr. 

Als ich damals in der Böttcherstraße nach oben geschaut habe, wurde mir klar, dass dort auch gewohnt wird. Das ist großartig, wenn man in relativ ruhiger Lage mitten in der Stadt in historischen Gebäuden wohnen kann, vielleicht sogar die eine oder andere Kulturveranstaltung direkt drei Etagen tiefer hat oder eben auch einen Arbeitsplatz. Diese Mischung fand ich ganz spannend.

Der Blick nach oben ist übrigens überall ein ganz wichtiger Punkt. Die, die eilig durch eine Stadt oder Straße rennen, sehen immer nur die Erdgeschosse. Das kann man auch feststellen, wenn man Einheimische nach dem Weg fragt. Die meisten sagen »hinter dem Geschäft XY rechts abbiegen«, weil sie eben das Erdgeschoss mit dem Schaufenster im Blick haben. Tourist*innen sagen stattdessen »dann kommt die große Kirche und dahinter ist dann das Rathaus«. 

 

Was ist eigentlich genau der Unterschied zwischen Denkmälern und Sehenswürdigkeiten? Wo ist die Abgrenzung?

Der Begriff »Denkmal« ist klar definiert. Darunter versteht man ein Zeugnis der historischen Entwicklung. Oder um angelehnt ans Denkmalschutz-Gesetz zu antworten: Denkmäler sind Zeugnisse der Kunstgeschichte, der Industriegeschichte, der Arbeitsgeschichte oder der Verkehrsgeschichte. Denkmale können dann auch Sehenswürdigkeiten sein. Zu Sehenswürdigkeiten würde ich eben auch den Park mit dem tollen Ausblick zählen. Oder es kann die Skyline des Hafens sein. 

 

Arbeitsalltag in der Böttcherstraße

Dr. Henrike Hans von den Museen Böttcherstraße

Sehenswürdigkeiten haben einen gesellschaftlichen Auftrag – daran bestehen für Dr. Henrike Hans keine Zweifel. Im Gespräch erzählt die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Sammlungskuratorin der Museen Böttcherstraße uns, was ihren Arbeitsalltag ausmacht.

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Stefanie Steinbrink Kelly vom »Blauen Fasan«

Stefanie ist Betriebsleiterin der Cocktailbar »Blauer Fasan«. Im Dezember 2020 ist die Bar in die Böttcherstraße gezogen – ein mutiger Schritt mitten im Lockdown. Doch mit dem besonderen Ambiente der Straße und der bunten Mischung der Gäste ist sie sehr glücklich.

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